Zum 2. November (Allerseelen-Tag): Wie nah darf ich den Toten kommen?

Alina Hofer

An einem regnerischen Sonntagnachmittag begibt sich unsere Kolumnistin Lara Alina Hofer (22) auf die Suche nach dem Grabstein von Robert Walser. Auf ihrer Reise ins ferne Appenzell, wo der berühmte Schweizer Schriftsteller begraben liegt, erwarten Hofer so manche Überraschungen.

Lara Alina Hofer*

Schon lange nicht mehr war ich so richtig traurig – bis heute. Es ist ein regnerischer Sonntagnachmittag. Ich sitze alleine in einem kleinen Café im Herzen der Stadt Zürich und lese. So tief von herbstlicher Melancholie erfasst, dass ich nicht mehr weiss, wohin mit mir, entschliesse ich mich ganz spontan dazu, das Grab von Robert Walser aufzusuchen. Mein liebster Dichter, der mich bisher noch immer verstanden hat.

Ich steige also in den nächsten Bus und fahre an den Hauptbahnhof. Dort angekommen, steige ich in einen Zug nach St. Gallen, reise weiter nach Gossau und schliesslich mit einer «Appenzeller Bahn» nach Herisau im Kanton Appenzell Ausserrhoden, einem abgelegenen Dorf, in dem der renommierteste Schriftsteller der Schweiz begraben liegt.

Auf dem Weg ins Appenzell begegnen mir unzählige SVP-Plakate, Tagesausflügler und alte Leute. Das Appenzell ist sehr grün, bergig, mit vielen grasenden Kühen. Es ist mein erster Besuch hier. Ich weiss bloss, dass in diesem Kanton mein Heimatort liegt. Vielleicht bei Walser.

Während der Busfahrt nach «Herisau Friedhof» wünsche ich mir vieles. Ich wünschte, ich hätte einen Schal dabei. Oder wenigstens eine Jacke. Ich wünschte, ich hätte etwas im Magen. Ich wünschte, die Frau neben mir würde endlich aufhören, ihr Kind anzuschreien. Und vor allen Dingen wünsche ich mir, dass dieser im Grunde genommen wunschlose Zustand noch ein Weilchen länger anhält.

Oben auf dem Hügel angekommen, geniesse ich eine traumhafte Aussicht auf endlose Weiten, grüne Wiesen und den orangen Horizont. Herbstlich gefärbte Bäume rascheln, Vögel zwitschern, ansonsten ist es ganz still. Ich verstehe jetzt, wie man hier zur Ruhe kommen kann. Ich verstehe auch, wie man hier verrückt werden kann. Und vor allen Dingen verstehe ich, wie man hier sterben kann. Man rutscht hier quasi ganz von alleine ins Abseits, in diese ewige Stille.

 

Und ja, vielleicht weine ich ein bisschen, trauere um einen Geliebten, den ich zu kennen glaube, so gut, wie man einen Dichter nun mal eben kennen kann.

Alina Hofer

 

Apropos «stiller Ort»: Der Friedhof erscheint mir riesig, und ich fühle mich schnell verloren. Mir wird schwindelig, und ich denke an Walser, der hier in Herisau, auf einem Spaziergang durch den Schnee, plötzlich tot umfiel. Ich sehe mich selbst von aussen, sehe mich reglos auf dem Boden liegen. Niemand weiss, wo ich bin, und niemand wird nach mir suchen, tot auf dem Friedhof von Robert Walser. Ein Schauer läuft über meinen ­Rücken. Auf Friedhöfen fühle ich mich unwohl. Zu viel Leben steckt noch in mir. Zu viel Leben gibt es noch zu leben.

Auf Google Maps ist das Grab von Robert Walser nicht eingezeichnet. Mir bleibt also keine andere Wahl, als zu suchen, bis ich es gefunden habe. Mein Blick schweift über die endlos vielen Grabsteine. Nebst mir ist der Friedhof menschenleer. Nur die Toten sind hier. Mit mir.

Nach langer Zeit entdecke ich einen winzigen Wegweiser: «Robert Walser, bitte rechts abbiegen». Ich schüttle den Kopf. Bestimmt hätte es dem bescheidenen Dichter nicht gepasst, dass sein Grab gekennzeichnet ist und über allen anderen steht.

Einige Schritte weiter steht es schliesslich vor mir: das Grab von Robert Walser. Mit schlichtem Grabstein, ohne Verzierung, ohne Jesuskreuz, ohne Skulptur. ­Abseits von allen anderen Gräbern, ganz alleine. Zugewuchert von Büschen, an denen dunkelrote, vielleicht schwarze ­Vogelbeeren zur Sünde verlocken. Ich schiebe die dunkelgrünen Zweige beiseite und lese, was auf dem Grabstein steht: Robert Walser, 1878 – 1956. «Ich mache meinen Gang, der führt ein Stückchen weit und heim; dann ohne Klang und Wort bin ich beiseit.»

Ich schliesse meine Augen und spreche ein Gebet. Ich spreche zu Robert Walser. Bedanke mich. Und ja, vielleicht weine ich ein bisschen, trauere um einen Geliebten, den ich zu kennen glaube, so gut, wie man einen Dichter nun mal eben kennen kann.

Und jetzt? Wie nah darf ich dem Toten kommen? Ist es übergriffig, seinen Grabstein zu berühren? Für Walser bin ich bloss eine Fremde. Er kennt mich nicht, und ich kenne ihn nicht. Aber ich hätte ich gerne gekannt und kenne ihn ja doch irgendwie, und so berühre ich schliesslich seinen Grabstein. Er ist kalt. Eiskalt. Ich streichle ihn, streichle seine Wange, fühle mich ganz verbunden mit ihm – und ziehe dann ehrfürchtig, beinahe beschämt, die Hand zurück. Sie ist noch immer kalt.

Plötzlich ein Schmerz. Juckreiz. Am ganzen Körper. Ich blicke an mir herab und reisse erschrocken die Augen auf. Riesige Stechmücken umschwirren mich, zerstechen mich, verscheuchen mich. «Geh! Geh! Solange du noch kannst!», surren sie. Beschützen vielleicht ihr Zuhause.

Ich wende mich irritiert zum Gehen ab. Da beginnt plötzlich die Glocke der kleinen Friedhofskapelle zu läuten. Einfach so. Als ich das Gelände verlasse, verstummt sie wieder. Ich lächle. Walser hat mich also doch gesehen. Kurz begrüsst und sich dann verabschiedet. «Adieu, Walser», flüstere ich. «Vielleicht werde ich irgendwann wiederkommen. Und du wirst noch immer hier sein. Ich muss noch lange wandern, noch manchen Schritt gehen. Es gibt vieles noch zu tun, vieles noch zu schreiben. Und vielleicht, eines Tages, besuchen die Kinder mein Grab, die Kinder der Literatur, und sie werden mich grüssen und vielleicht, wenn sie mutig sind, sanft über meinen Grabstein streicheln.»

Robert Walser

Robert Walser (1878 – 1956) war ein renommierter Schweizer Schriftsteller, geboren und aufgewachsen in Biel. Später lebte er in Zürich (Robert-Walser-Gasse) und Berlin. Zu seinen bekanntesten Werken gehören die Romane «Geschwister Tanner», «Der Gehülfe» und «Jakob von Gunten», sowie diverse Gedichte und Kurzgeschichten. Nach einem Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik Herisau verstarb Walser an Weihnachten 1956 auf einem Spaziergang im Schnee. (pd.)

* Lara Alina Hofer wurde 2001 in Biel geboren. Nach einer Anstellung bei der Zeitung zog sie 2021 nach Zürich, wo sie in die junge Literatur- und Kunstszene eintauchte. Heute ist sie Teil des Jungen Literaturlabors (JULL) und schreibt Kolumnen für diverse Zeitungen. Sie studiert Fine Arts an der Zürcher Hochschule der Künste, wohnt in einer lebhaften 6er-WG und trinkt (zu) viel Kaffee.

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