Provisorien und Rochaden

Tobias Hoffmann

In den nächsten Jahren saniert der Kanton drei grosse Stadtzürcher Gymnasien und macht sie für einen zeitgemässen Unterricht fit. Was aber unternimmt er, um für den anhaltenden Zuwachs an Schülerinnen und Schülern gewappnet zu sein?

Ein trüber Montagnachmittag Mitte September. Nach Schulschluss wälzt sich eine schier endlose Reihe junger Leute aus dem Eingang des Gebäudes Y34 und strömt über die Hauptachse des Campus Irchel, dann die Treppen zum Irchelpark hinab über die Teichbrücke und die grosse Wiese hinweg zur ÖV-Drehscheibe Milchbuck. Die meisten besteigen Trams der Linien 7, 9, 10 und 14 Richtung Schwamendingen, Oerlikon und Seebach, das Einzugsgebiet ihrer Kantonsschule Zürich Nord (KZN). Sie alle sind im «Exil» auf dem Universitätscampus, wo ihnen für drei Jahre ersatzweise Schulraum zur Verfügung steht.

Der Campus Irchel ist ein Glücksfall für die Planung des kantonalen Mittelschul- und Berufsbildungsamts (MBA). Mehrere grosse Stadtzürcher Kantonsschulen sind sanierungsbedürftig. In zwei ehemaligen Chemiegebäuden finden während neun Jahren fünf Mittelschulen Unterschlupf, zuerst bis 2027 die KZN (2024–2027), dann das mathematisch-naturwissenschaftliche und das Literargymnasium Rämibühl (2027–2030) und schliesslich die Kantonsschulen Freudenberg/Enge (2030–2033). Aber aufwendige Sanierungen bestehender Gebäude sind längst nicht die grösste Herausforderung für den Kanton: Die demografische und die gesellschaftliche Entwicklung erfordern einen grossen Um- und Ausbau der gesamten Mittelschule.

Zur Hälfte Schüler von auswärts

Um das zu erläutern, braucht es eine Portion Statistik. Falls Sie eher musisch als mathematisch orientiert sind, überspringen Sie die nächsten drei Abschnitte. Oder interessiert Sie die Frage: Sind Stadtzürcher Kinder dümmer als Kinder ausserhalb der Stadt? Sind sie vermutlich nicht. Aber es gibt einen Zahlenvergleich, der viele überraschen dürfte: Vor zwanzig Jahren zählte die Stadt Zürich 365 000 Einwohnerinnen und Einwohner, der Kanton 1,26 Millionen, der Anteil der Stadt betrug also zirka 29 Prozent. Die verschiedenen Gymnasien im Kanton, private inbegriffen, zählten im selben Jahr 3519 Schülerinnen und Schüler mit Wohnsitz in der Stadt Zürich und 10 395 ausserhalb, was ein Verhältnis von 25 zu 75 Prozent ergibt. Ausserhalb Zürichs gingen also prozentual mehr junge Menschen aufs Gymnasium.

Nun ja, besonders gross ist der Unterschied nicht. Aber paradox erscheint er schon, denn der kurze Schulweg hätte es den Stadtzürchern eigentlich leichter gemacht, sich für den Gymibesuch zu entscheiden. Auf städtischem Boden gab es schliesslich ein Dutzend Gymnasien verschiedener Ausrichtung, über den Rest des Kantons verstreut hingegen nur noch acht weitere, wovon drei in Winterthur. Diese Verteilung hatte zur Folge, dass 2004 die Hälfte sämtlicher ausserhalb Zürichs wohnhafter Gymnasiasten auf eine Schule in der Stadt Zürich ging.

Städtische Klugheit im Aufwind?

Wie aber sieht es heute aus, nach zwanzig Jahren kontinuierlichen Bevölkerungswachstums sowohl auf städtischer wie auch kantonaler Ebene und nach intensiven Diskussionen über die zukünftige Ausrichtung der Bildungslandschaft? Die Bevölkerung der Stadt Zürich hat bis Ende 2023 um über 80 000 Personen – das entspricht ungefähr der Einwohnerzahl der Stadt St. Gallen – und damit um 22,5 Prozent zugenommen, jene des Kantons um über 27 Prozent auf 1,6 Millionen. Kein Wunder, dass die Zahl der Gymnasiasten stark gewachsen ist, und zwar auf 5501 mit Wohnsitz in der Stadt Zürich und auf 13 813 ausserhalb. Das Verhältnis heute: 28,5 zu 71,5 Prozent. Die Stadt hat also punkto Klugheit – oder sagen wir doch lieber vorsichtig: punkto Bildung – aufgeholt.

Das könnte damit zu tun haben, dass die jüngste Einwanderung in die Stadt mehr als früher gut ausgebildetes Personal betrifft. Aber das gilt für etliche andere Gemeinden wohl auch. Dazu ist viel die Rede davon, dass der Druck auf junge Menschen steigt, eine gute, wenn möglich universitäre Ausbildung zu machen. So ist denn auch der Anteil der Schülerinnen und Schüler auf den Sekundarstufen I und II laut MBA seit 2004 von 14,8 auf gut 17,5 Prozent gestiegen – was allerdings im internationalen Vergleich ein noch immer sehr tiefer Wert ist.

In Zukunft mehr Flexibilität

Sehr zackig hat der Kanton auf den sich seit über zehn Jahren abzeichnenden Bedarf nicht reagiert. Immerhin wurden zwei Provisorien an neuen Schulstandorten eröffnet: 2018 in Uetikon am See (Erweiterung bereits 2023) und 2020 in Wädenswil-Au. 2022 dann ging der Kanton mit dem Projekt «Schulbauten der Zukunft» in die Offensive. «Bis 2032 wird die Zunahme mit verschiedenen Kapazitätserweiterungen an bestehenden Standorten, neuen Provisoriumsbauten und dem Aufbau in Neubauten für insgesamt über 3000 zusätzliche Schülerinnen und Schüler abgefedert», schreibt das MBA auf Anfrage. In Uster, Wädenswil wie auch in Zürich Hottingen sind kürzlich Erweiterungen in Betrieb genommen worden.

Auf dem Platz Zürich ist die in Windeseile aus dem Boden gestampfte Dépendance der Kanti Wiedikon zwischen PJZ und Hardbrücke bemerkenswert. Vielleicht wird in Zukunft am selben Standort eine neue Kantonsschule entstehen. Und neben der Sanierungsrochade im Irchel wird es ab 2030 eine weitere Rochade geben: Die kantonale Maturitätsschule für Erwachsene (KME) und die kantonale Berufsschule für Weiterbildung (EB Zürich) werden in der umgebauten Kaserne unter einem Dach zusammengefasst, und das Literargymnasium zieht in die frei werdenden Gebäude in Riesbach, sodass im Rämibühl neuer Schulraum verfügbar wird.

Und bei all dem spielen auch die veränderten Bildungskonzepte eine Rolle, die viele Anpassungen erfordern. Den bestehenden Schulbauten fehle dazu oft die notwendige Flexibilität, schreibt das MBA. Deshalb würden Neubauten mit ­einem möglichst hohen Flexibilitätsgrad konzipiert, sodass auch langfristig auf sich verändernde Lernanforderungen reagiert werden könne. Die Zeit der monumentalen Bildungspaläste sollte demnach eigentlich definitiv vorbei sein.

Gwunderbrunnen

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