Wenn der Alltag zur Hürde wird
Falsch abgestellte E-Trotti, EC-Karten-Geräte ohne Vorlesefunktion oder schlecht hörbare Elektroautos: Anlässlichdes Tags des Weissen Stocks zeigt der Sehbehinderte Reto Frey, welche Alltagssituationen eine Herausforderung sind.
Zwischen den E-Trottinetts am Bahnhof Oerlikon stehen zwei sogenannte Dialoger mit roten Westen, sie sprechen Passantinnen und Passanten an und werben für Spenden. Eine Stimme ruft, ein Lachen, dann das sirrende Surren eines Rollkoffers. Zwischen all dem bewegt sich Reto Frey. Der weisse Stock tastet ruhig den Boden ab, die Bewegung präzise. Ein Dialoger spricht ihn an, freundlich überrascht. Reto Frey lacht, weicht elegant aus. Er hat Übung darin, sich durch wuselige Menschenmengen zu bewegen.
«Ich bin heute mit dem Bus gekommen», sagt er später im Café. «Man merkt sofort, wenn sich etwas verändert – eine Baustelle, ein neuer Bordstein, ein anderes Pflaster. Ich muss wissen, wo ich aussteige, wo Hindernisse sein könnten.» Vor drei Jahren sei es hier furchtbar gewesen, als überall Baustellen waren.
«Jeden Tag ein neuer Weg. Jetzt ist es gut – geordnet, klar.» Beim Erzählen merkt man, dass es ihm Freude bereitet, und gleichzeitig wird deutlich, dass er geübt darin ist, seine Lebensgeschichte mit strukturellen Barrieren für andere verständlich zu machen.
Er setzt sich für Barrierefreiheit ein
Schliesslich ist er Medienbotschafter für den Schweizerischen Blindenbund in der Regionalgruppe Ostschweiz. Dieser beteiligte sich heute Mittwoch, 15. Oktober, im Rahmen des Tags des Weissen Stocks, mit Aktionen und Kampagnen. Für Reto Frey ist der Tag des Weissen Stocks kein Gedenktag, sondern Alltag. Seit einem schweren Unfall vor rund dreizehn Jahren lebt er mit einer starken Sehbehinderung. Heute arbeitet er als Koch, gibt Schulungen bei der CAB – Caritas Aktion der Blinden – und engagiert sich aktiv für Barrierefreiheit im Alltag.
Die moderne Welt wird leiser
Die Moderne ist leiser geworden – oft zu leise für Menschen, die auf das Hören angewiesen sind. E-Autos, E-Bikes und Trottinetts gleiten fast lautlos durch die Stadt. «Diese Woche stand ein Trotti quer auf dem Trottoir, ein anderes Mal stolperte ich über einen E-Scooter vor einer Apotheke. Zum Glück hatte ich eine Maske auf, so sah man die Verletzungen nicht», erzählt er im Nachhinein lachend. Doch die Gefahr ist real. Wo früher Motoren brummten, klaffen heute Lücken im akustischen Raum. «Wenn ein Auto auf mich zufährt, erkenne ich das am Geräusch. Wenn nicht, bleibt nur zu hoffen, dass die Person hinter dem Steuer mich sieht.»
Gemäss Zahlen des Bundesamts für Strassen stieg die Zahl der Unfälle zwischen E-Fahrzeugen und Fussgängerinnen und Fussgängern 2024 um rund fünfzig Prozent. Zwar sind seit 2021 alle neuen Elektroautos verpflichtet, ein akustisches Warnsystem zu besitzen, ältere Fahrzeuge, E-Bikes und Trottinetts sind davon ausgenommen. Orientierung und Sicherheit hängen hier fast ausschliesslich vom Hören ab. «Wenn man selbst betroffen ist, hat man einen ganz anderen Blick», sagt er. «Wenn du zum Beispiel ein Auto kaufst, einen BMW, dann siehst du plötzlich nur noch BMW auf der Strasse. Ich denke, die Leute sind schon sensibler geworden. Aber ob es wirklich so ist, weiss ich nicht.» Freundlichkeit spüre er, doch es gebe auch Momente, in denen er den ihm zugedachten Platz im Bus nicht erhalte, weil eine junge Person sitzen bleibt.
Digitale Welt, visuelle Welt
Auch die digitale Welt richtet sich stark ans Auge. «Überall nur Bildschirme, alles wird gezeigt, nichts mehr gesagt. Liftknöpfe, Touchscreens, EC-Karten – oft gibt es keine Vorlesefunktion. Ingenieure haben gar nicht daran gedacht, dass andere Probleme haben könnten, auch alte Menschen.» Viele Geräte lassen sich nur über glatte Displays bedienen, Webseiten sind für Screenreader unlesbar. Fehlende alternative Texte, Buttons ohne Beschriftung, PDFs ohne Struktur – alltägliche Barrieren in einer Welt, die visuelle Intuition voraussetzt.
Barrierefreiheit ist keine Sonderanforderung, sondern Basis der Gestaltung. Gleichzeitig überfordert die permanente visuelle Reizflut auch Sehende. Benachrichtigungen, blinkende Anzeigen, wechselnde Interfaces – sie schaffen eine Kultur ständiger Aufmerksamkeit. Eine Gesellschaft, die auf Dauer sieht, aber weniger hört, verliert Orientierung – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.
Verloren ohne Bahnhofsdurchsage
Auch der öffentliche Verkehr ist zunehmend visuell organisiert. Akustische Durchsagen, einst selbstverständlich, werden reduziert – aus Lärmschutzgründen oder wegen Digitalisierung. Jede Information muss über mindestens zwei Sinne zugänglich sein.
Apps wie SBB Inclusive bieten zwar barrierefreie Routen, ersetzen aber keine Durchsagen. «Wenn du auf einem Bahnhof stehst und es kommt keine Durchsage, dann bist du verloren», sagt Reto. «Du hörst nicht, ob der Zug einfährt oder auf welchem Gleis.»
Schwierig ist das Anrichten
In seinem stark vom Schicksal geleiteten Leben ist Kochen für Reto Frey der rote Faden. Er absolvierte eine Kochlehre im «Rössli» Illnau, arbeitete in verschiedenen Betrieben, im Militär, bei Delinat und drei Jahre in Singapur. Später absolvierte er eine Weiterbildung in Betriebsökonomie und gründete eine Marketing-Firma.
«Wichtig ist, dass Dinge immer am gleichen Ort stehen. Nicht eins hier, eins dort.» Seine Stimme klingt ruhig, fast meditativ, stets mit einer Prise Humor. «Schwierig ist das Anrichten, da brauche ich Hilfe – wo die Prise hinkommt, der Löffel, das Stück Fleisch. Das Einzige, was ich nicht allein kann, ist, den Touchscreen am Herd zu bedienen. Aber sonst geht es gut.»
Heute kocht er im Treffpunkt Nordlicht der Stiftung Pro Mente Sana mit psychisch beeinträchtigten Menschen. «Da geht man ungezwungen mit dem Thema um. Alle sagen: ‹Ich habe einen Dachschaden – hast du auch einen?› – als Spass. Was oft als Beleidigung auf einen projiziert wird, wird hier selbstbestimmt aufgegriffen, um die schon immer bestehende oder neue Normalität zu gestalten.»
Kochen ist Ausdruck von Freiheit. Er lädt Freunde ein, experimentiert und zeigt, dass sein Alltag selbstbestimmt ist. 2017 gründete er den Verein Blind Chefs, bei dem blinde Menschen für ihre Freunde kochen. «Sie haben keine Kochausbildung wie ich, aber Freude daran, Neues auszuprobieren.»
Das Glas ist für ihn halb voll
Vor rund dreizehn Jahren veränderte ein schwerer Unfall sein Leben. Monatelang lag er im Koma, alles musste neu gelernt werden. Danach kam er in die Stiftung Mobile, um Schritt für Schritt wieder ins Leben zurückzukehren. «Es war hart, aber ich habe immer versucht, den Fokus auf das zu legen, was möglich ist, nicht auf das, was verloren ging.» Diese Erfahrung prägt ihn bis heute – im Umgang mit Barrieren, in seiner Freude am Kochen, an Reisen und der Arbeit mit anderen Menschen.
«Für mich ist das Glas halb voll», sagt Reto Frey. Diese Einstellung zieht sich wie ein roter Faden durch seinen Alltag und seine Arbeit. Sie beschreibt seine Haltung zu Resilienz, Selbstbestimmung und Lebensfreude – trotz aller Hindernisse. Resilienz ist für ihn ein treuer Begleiter, ebenso wie der weisse Stock.
Was alle tun können
Viele Gefahren entstehen aus Unwissen. Wer E-Fahrzeuge nutzt, kann die Sicherheit erhöhen, indem er langsamer fährt, frühzeitig klingelt oder akustische Warnsignale nutzt. Fahrzeuge sollten nicht auf Trottoirs, Blindenleitlinien oder an engen Stellen abgestellt werden. Über das Thema zu sprechen und andere zu sensibilisieren, trägt ebenfalls zu mehr Sicherheit bei.
Elektromobilität, Digitalisierung, Stadtplanung – all das verändert, wie wir die Welt wahrnehmen. Leise Fahrzeuge, visuelle Interfaces, fehlende akustische Signale schaffen neue Unsichtbarkeiten. Die Unsichtbarkeit entsteht also nicht nur durch fehlendes Sehen, sondern durch fehlendes Mitdenken.
Effizienz und Innovation bringen Stille mit sich – und diese Stille kann gefährlich sein – besonders für Blinde und sehbehinderte Menschen. Akustische Signale an Ampeln, klare Wegeführung, barrierefreie Websites und spürbare Knöpfe helfen nicht nur Blinden, sondern allen, die in der Reizflut Orientierung suchen.
Am Ende klappt Reto Frey seinen weissen Stock wieder aus, verlässt den Ort und geht zum Training. So selbstbestimmt wie sein Alltag, zeigt er: Mit Planung, Erfahrung und Rücksichtnahme lassen sich Barrieren überwinden, und die Stadt wird für alle ein Stück hörbarer, sicherer und verständlicher.