Vom Widerspruch
Ich erinnere mich an einige Diskussionen, in denen ich mich meinem Gegenüber sofort überlegen fühlte, wenn er sich in Widersprüche verwickelte. Der Satz «Du widersprichst dir!» war quasi ein geistiger K.‑o.-Schlag. Aus Krimis ist es uns ebenfalls bekannt. Da versuchen geschulte Beamte im Verhör, ihr Opfer in Widersprüche zu verwickeln, um es geständig zu machen. Dieses Vorgehen entspricht der gängigen Meinung, dass es nur eine Wahrheit gibt. Und oft ist das ja auch richtig. Entweder regnet es gerade oder nicht.
Und von dieser einfachen Situation lassen wir uns verleiten, sie auch auf komplexere Begebenheiten anzuwenden. Und das ist falsch. Denn es gibt auch Mehrdeutigkeiten und sogar Gegensätze, die normal sind. Beispielsweise sind viele menschliche Eigenschaften gegensätzlich angelegt. Der Mensch ist nicht nur gut oder böse, er ist beides. Er ist nicht nur mutig oder feige und ängstlich, er ist beides. Der Philosoph und Psychiater Karl Jaspers fand gerade in der Verbindung dieser Gegensätze die richtige oder angemessene Betrachtung des Menschen. Das gilt nicht nur für das Gutachten eines Psychiaters, das hat auch für uns selbst eine grosse Bedeutung.
«Denn es gibt auch Mehrdeutigkeiten und sogar Gegensätze, die normal sind.»
Wir haben oft Mühe, uns einzugestehen, dass wir auch böse sind. Gerade wir, die wir uns bemühen, gut zu sein. (Ich verzichte hier auf eine Definition von Gut und Böse und verstehe die Begriffe im landläufigen Sinn.) Aber sich bemühen, zu seinen Mitmenschen gut zu sein, und gleichzeitig auf einige dieser Leute böse sein können, kann durchaus miteinander einhergehen. Ein Widerspruch, der nicht nach einem Entweder-oder verlangt, sondern als Sowohl-als-auch seine gute Berechtigung hat. Ja gerade, weil wir merken, dass wir auch böse sein könnten, bemühen wir uns oft, besonders gut zu sein. Das hat Goethe schon gesehen und seinen Mephisto sagen lassen: «Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.» So gesehen hat das Böse auch viel Gutes. Widersprüche sind nicht einfach falsch, sie ergänzen sich oft und gehören darum sogar zusammen.
Das gilt auch für das Wortpaar «falsch oder wahr». Mit einem Zitat von Sigmund Freud kann ich das belegen. Bekanntlich hat er sich gerade mit den menschlichen Widersprüchen intensiv beschäftigt, sie erforscht und beschrieben: «Das Falsche ist oft die Wahrheit, die auf dem Kopf steht.»