Sprayen im «Schlagraffland»
Am Osterwochenende gestalteten über 100 internationale Spraydosenkünstlerinnen und -künstler die alte Kläranlage neu – vor einem grossen, interessierten Publikum. Doch auch ihre Werke werden nicht ewig bleiben: Ab 1. Mai dürfen alle mitmachen.
Ein «Schlaraffenland für Sprayer» ist die alte Kläranlage beim Glattpark geworden. «Graffland» nennen es die Initianten und Betreiber Yassin Tair und Till Boller, und es umfasst neben vielen Wänden zum Verzieren auch Bauwagen und Container für Ateliers (und einen Barbier), einen Laden mit Spraydosen und ein öffentliches Freiluftcafé (siehe Ausgabe vom 10. April).
Zum Auftakt der Sommersaison sind rund 110 Sprayerinnen und Sprayer aus nah und fern gekommen. Einer von ihnen ist Basil Girard. Der frischgebackene Vater geniesst eine kurze Auszeit und sprayt behutsam an einem «Graffiti-Teufel», der auf einer Chimäre sitzt, einem Mischwesen aus der griechischen Sagenwelt, meist mit mehreren Köpfen und Schwänzen von Löwen, Drachen, Ziegen und Schlangen. «Das ist nicht mein Erster», sagt der Winterthurer, «denn ich mag dieses Motiv.» Sein Graffiti-Teufel hat nicht nur Spraydosen dabei, sondern auch eine Farbrolle und -kübel, ist also nicht aufs schnelle Verunstalten von Flächen aus, sondern will seinem Werk gleichsam eine solide Grundlage schaffen – wie ein Graffiti-Künstler. Basil Girard ist überzeugt: «Es gibt weltweit keine grössere Kunstbewegung als Graffiti.»
«Wie Messi beim örtlichen FC»
Am Osterwochenende hatte man Gelegenheit, einigen Idolen der Szene bei der Arbeit zuzusehen. «Es ist, wie wenn Lionel Messi beim FC ein Training gibt und ein paar Tricks zeigt», umschreibt Mitorganisator Yassin Tair das Gefühl, dabei zu sein.
Entsprechend viele Leute zog die Eröffnung an. Da es keinerlei Eintrittskontrollen gab, kann Yassin Tair nur schätzen – oder auf die Gastronomiezahlen zurückgreifen: «Wir haben knapp 1200 Würste und 60 Kilo Steaks verkauft, dazu 250 Kilo Pommes frites, von denen wir die letzten im Zürcher Hauptbahnhof besorgen mussten», zählt er auf. Ach ja, und 1200 Liter Bier hätten sie gezapft. «Wir sind zwar müde, aber voller Freude und glücklich, dass es so gut gelaufen ist.» Man habe zwar angesichts des grossen Andrangs am Samstagabend vorsichtshalber einen Sicherheitsdienst engagiert. «Doch es kam zu keinem einzigen Zwischenfall. Die unterschiedlichsten Menschen waren einfach inspiriert von der Kunst.»
35 Helferinnen und Helfer sorgten in Vier-Stunden-Schichten ständig für Nachschub oder entsorgten Abfall, standen am Grill, gaben Workshops im Sprayen oder bedruckten T-Shirts. Trotz des Aufwands wollen Yassin Tair und Till Boller und ihr Verein «Farben für Zürich», die als «Dosendealer» mit einem kleinen Laden für Spraydosen angefangen hatten, mehrmals jährlich solche Events veranstalten, bei denen man den Sprayern über die Schulter schauen, sich inspirieren lassen oder selber ausprobieren kann.
Hippiebus als Chamäleon
Gerade Letzteres fand grossen Anklang: Die Übungswände für die Kinder wurden fast stündlich übermalt, auch die ehemaligen Klärbecken haben rundherum neue Bilder bekommen. «Und unser ‹Hippiebus› hat am Wochenende bestimmt acht Schichten Farbe erhalten», schätzt Yassin Tair. Gefreut hat er sich aber auch über die Neugierigen ohne Spraydose: den Jogger, der eine Runde um die Klärbecken drehte, oder die Spaziergängerin mit Rollator, die jeden Tag vorbeikam, um das neu Entstandene zu bestaunen.
Und sie tut gut daran, denn es kommt der Moment, wo die Bilder übermalt werden und so neuen Platz machen. «Das ist part of the business», sagt Yassin Tair, «selbst wenn es auch mir manchmal Herzschmerz bereitet.» Am 1. Mai startet der Sommerbetrieb: Dann können sich wieder alle mit der Spraydose versuchen – oder mittwoch- bis sonntagnachmittags im Café die Stimmung geniessen.