Nicht nur Sport, sondern Hoffnung

Roger Suter

Der Kampfsport Taekwondo ist in Asien sehr beliebt. Sehr viele Geflüchtete übten ihn in ihrer Heimat aus. In der EL-Taekwondo-Schule können sie das wieder tun – und manche werden gar für olympische Wettkämpfe auserkoren.

Das Gebäude an der Europastrasse ist älter und eher unauffällig. Der Nieselregen trägt das Seine dazu bei. Doch drinnen herrscht alles andere als Trübsal: Fast zwei Dutzend Kinder und junge Erwachsene wärmen sich mit einem Reaktionsspiel auf: Während sie zu zweit schnell von einem Bein aufs andere hüpfen, ertönt ein Pfiff, und beide bücken sich nach einem kleinen Plastikkegel zwischen ihnen. Dabei hüpft jeder gegen jede – und es ist keineswegs sicher, dass der oder die Grössere gewinnt. Dazwischen sind immer wieder Liegestütze zu drücken. Sind alle richtig warm, wird ausgiebig gedehnt.

Mittendrin steht und beobachtet Ehsan Naghibzadeh. Er ist Grossmeister (4. Dan) im Taekwondo (siehe Box), mehrfacher iranischer Meister und Gewinner mehrerer Medaillen, auch international. Mit 16 kam er in die iranische Nationalmannschaft, gewann an den Weltmeisterschaften 2013 in Mexiko mit seinem Team den zweiten Platz. Neben weiteren internationalen Erfolgen ist er Westasien-Champion, hat den zweiten Platz an der  Weltuniversiade und ist Asien-Club-­Meister. 

 

«Ich kämpfe für alle Frauen in Afghanistan.»

Tahora Ismaili, Teilnehmerin Olympisches Jugendfestival

 

2015 floh er in die Schweiz und wurde dem Kanton Appenzell zugeteilt. Von dort pendelte er täglich mehrere Stunden, um seiner geliebten Sportart frönen zu können – doch Wettkämpfe blieben ihm wegen seines Flüchtlingsstatus vorerst verwehrt, weshalb sich der heute 35-Jährige ein zweites Standbein als Taekwondo-Coach sowie als diplomierter Fitnesstrainer (und als solcher für Taekwondo) schuf.

Erst im Rahmen des «Refugee Athlete Scholar Programs» des Olympischen Komitees konnte er 2019 an den Taekwondo-Europameisterschaften in Bari und 2021 in Sofia teilnehmen. Doch dort schien ein komplizierter Handbruch seine Sportkarriere zu beenden. Ehsan überlegte sich, wie er sein Wissen um Taekwondo weitergeben könnte – und gründete trotz Covid-Restriktionen in Glattbrugg zusammen mit Lisa Vogt, einer ihm bekannten Taekwondo-Kämpferin (ebenfalls 4. Dan) aus Österreich, seine eigene Schule, EL Taekwondo.

Von hartem Beton zu weichem Blau

Seit Herbst 2024 trainieren die rund 120 Clubmitglieder nun an der Europastrasse 23 statt in einem angemieteten Dojang in einem Glattbrugger Untergeschoss. Hier haben Ehsan Naghibzadeh, Lisa Vogt, ein weiterer befreundeter Taekwondo-Coach Matthias Kosol sowie Helferinnen und Helfer aus einem kahlen Betonraum im zweiten Stock einen Ort geschaffen, der nicht nur dem Training, sondern auch als Treffpunkt dient: Im Vorzimmer, an einer kleinen Bar mit Küchenzeile, treffen sich etwa die Eltern, welche ihre Kinder nach dem Training abholen, auf einen Schwatz.

Die jüngsten in ihrer Schule sind keine 4, die ältesten 60 Jahre alt. Und alle trainieren mit Elan – und Erfolg: An den Schweizer Meisterschaften vergangenes Jahr erreichte das Team den 3. Platz, und fünf «Refugees» holten Gold.

 

«Besonders stolz bin ich darauf, dass ich stellvertretend für alle Flüchtlinge auf der Kampf­fläche stehen darf.»

Nasim Mahmoudi, Teilnehmerin Kadetten-WM

 

So viel Erfolg erregte bald die Aufmerksamkeit des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Vom Hauptsitz in Lausanne angereist sind deshalb Gonzalo Barrio und Christophe Metzger. Barrio ist seit drei Jahren Manager des Refugee Olympic Team des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), Metzger unterstützt die Athleten in diesem Team seit vier Jahren. Es besteht seit 2016 und bietet Geflüchteten die Möglichkeit, auch in der Fremde Wettkämpfe zu bestreiten – wie einst Ehsan Naghibzadeh.

Nominiert für WM und EYOF

Und die beiden IOC-Funktionäre bringen gute Nachrichten: Eine junge Athletin ist für die Kadetten-Weltmeisterschaft und eine weitere ist für das European Youth Olympic Festival (EYOF) nominiert worden. Die Weltmeisterschaft findet in Fujairah und das EYOF findet in Skopje statt.

Der Bescheid kam für beide überraschend. Die 16-jährige Tahora Ismaili stammt aus Afghanistan, kam vor zweieinhalb Jahren ohne Eltern und unter schwierigen Umständen nach Zürich und fand diese Schule, um den Sport, den sie seit ihrem 6. Lebensjahr ausübt, weiter zu betreiben. «Das ist unglaublich, eine grosse Chance für mich», sagt sie etwas später, als sie sich wieder gefasst hat. «Ich kämpfe für alle Frauen in Afghanistan.»

Ihre Kollegin Nasim Mahmoudi ist 13 Jahre alt und kam aus dem Iran nach Embrach. Heute besucht sie die Kantonsschule in Bülach. «Ich freue mich wie verrückt und bin unglaublich stolz – mit Hingabe, Hoffnung und harter Arbeit lassen sich grosse Ziele erreichen. Besonders stolz bin ich darauf, dass ich stellvertretend für alle Flüchtlinge auf der Kampffläche stehen darf. Ich werde alles geben.» Auf die Glattbrugger Schule stiess sie durch einen Flyer. Und nun trainiert sie hier wie Tahora vier- bis sechsmal die Woche. «Das hilft mir, mental wie physisch», hat sie erfahren.

Integration mittels Kampfsport

Die beiden werden Refugee-Athleten sein, wie einst Ehsan. Auch heute sind in dessen Kampfsportschule von den rund 120 Mitgliedern etwa 20 Geflüchtete. Denn in ihren Herkunftsländern, oft in Asien gelegen, ist die Sportart, die ursprünglich aus Korea stammt, sehr beliebt. «Im Iran beispielsweise ist Taekwondo sehr populär», weiss Ehsan. Rund 5 Millionen seiner Landsleute würden diesem Sport frönen.Hier in Glattbrugg ist Taekwondo auch ein Mittel zur Integration, weshalb die Schule auch mit entsprechenden Stiftungen und Sozialämtern zusammenarbeitet. Es fördert die Gemeinschaft, gibt Selbstvertrauen und lehrt einen achtsamen Umgang miteinander. So werden Gäste – auch der Zeitungsreporter – mit einem Händedruck und einer leichten Verbeugung gegrüsst. Ebenso entbietet man dem Trainingsraum, wenn man ihn verlässt, die Ehre.

Für Ehsan und Lisa bedeuten diese Nominationen, dass sie auf dem richtigen Weg sind mit ihrer Schule. «Wir lehren hier abseits des Sports Dinge, die nicht verloren gehen sollten», findet Mitgründerin Lisa Vogt. Und Ehsan Naghibzadeh kann den Kindern aus eigener Erfahrung Mut machen, es ebenfalls zu versuchen: «Wenn ihr alles gebt, kommt es irgendwann zurück.»

 

Kampftechnik mit Hand und Fuss

Taekwondo ist eine Kampfkunst, welche ihren Ursprung in Korea hat und aus Karate weiterentwickelt wurde. Tae steht für Fuss und bezeichnet die (am meisten angewandten) Fusstechniken. Kwon bedeutet Faust und steht für die Hand- und Armtechniken. Unter Do ist der Weg, die Lehre, der Reifeprozess und der Geist zu verstehen. All das zusammen ergibt ein Ganzkörpertraining, das neben Koordination, Beweglichkeit, Kondition und Schnellkraft auch Konzentration und diszipliniertes Denken fördert. Es stärkt das Selbstvertrauen, vermittelt Gelassenheit in prekären Situationen und verbessert das allgemeine Wohlbefinden.

Es gibt verschiedene Disziplinen, und nicht bei allen geht es darum, ­einen Gegner zu besiegen: Kyorugi (Kampf), Poomsae (Formenlauf festgelegter Techniken in einer bestimmten Reihenfolge), Hosinsul (Selbstverteidigung), Kyokpa (Bruchtest mit Holzbrettern, Ziegeln oder sonstigen Materialien), Ilbo Daeryeon (ein Übungskampf mit festgelegter Technikenreihenfolge, mit Gegner), Gyeorugi (Freier Übungskampf mit  Gegner, häufig ohne Berührung) oder Dosu Dallyon (Gymnastik). ​Seit 2000 ist die Disziplin Kyorugi olympisch.