Einem Fluss Leben einhauchen
Die Revitalisierung der Glatt ist ein Grossprojekt voller Herausforderungen. Doch das Vorhaben bietet die Möglichkeit, einen neuen Umgang mit der Natur zu finden, der Menschen, Pflanzen und Tieren gleichermassen zugutekommt.
«Nicht gegen den Strom, sondern mit ihm»: An der Glatt bedeutet das, dass jeder Baggerstich, jeder Baumstamm und jede Kiesbank genau überlegt sein muss. Hitzesommer, invasive Arten und monotone Flussabschnitte stellen Fische und Fachpersonen vor komplexe Herausforderungen. Revitalisierung ist hier ein präzises Zusammenspiel von Eingriff und Beobachtung: Messungen, Monitoring und langfristige Kontrolle zeigen, ob die neu geschaffenen Lebensräume von der Natur angenommen werden.
Ein Fluss im Korsett
Über Jahrhunderte schlängelte sich die Glatt frei durch das Zürcher Unterland. Mit der Industrialisierung änderte sich ihr Bild radikal: Dämme, Begradigungen und harte Uferverbauungen zwangen das Wasser in ein Korsett. Hochwasserschutz hatte oberste Priorität, ebenso wie die Erschliessung von Flächen für Fabriken, Dörfer und Felder. Das Ergebnis war ein monotones Gerinne mit gleichmässiger Strömung, glatten Ufern und geringer ökologischer Vielfalt.
Heute soll die Begradigung des Flusses schrittweise zurückgenommen werden. Mit dem Projekt «Fil Bleu Glatt» wird der Flussraum zwischen Dübendorf und Glattbrugg neu gestaltet. Bis 2034 soll ein siedlungsnahes Erholungsgebiet entstehen – mit Fuss- und Velowegen, aber auch mit neuen Lebensräumen für Pflanzen und Tiere. Der Kantonsrat stellte 2022 dafür 63 Millionen Franken bereit. Die Aufwertung des Glattufers ab Dübendorf über Wallisellen hat bereits begonnen, die Umsetzung des Gesamtplans erfolgt in mehreren Etappen bis 2034.
Ein zentrales Ziel dieser ökologischen Aufwertung ist die Längsvernetzung: Fische und andere Wasserorganismen sollen Hindernisse wie Wehre oder Schwellen wieder überwinden können, um zu ihren Laichplätzen und Rückzugsräumen zu gelangen.
Doch Revitalisierung meint mehr als Wasserbau. Sie schliesst den ganzen Lebensraum entlang des Flusses ein. Dort, wo Wasser auf Land trifft, entsteht eine der artenreichsten Zonen überhaupt – ein schmaler Streifen, in dem sich Wasserläufer und Libellen, Frösche, Singvögel und Kleinsäuger begegnen. Diese sogenannte terrestrische Ökologie bildet das Bindeglied zwischen Fluss und Landschaft. Ein revitalisierter Fluss wirkt wie eine grüne Ader, die Lebensräume miteinander verbindet – in der Längsrichtung entlang des Gewässers, aber auch quer durch die Landschaft. Je vielfältiger diese Strukturen, desto stabiler das gesamte Ökosystem.
Revitalisierung gestaltet Fluss neu
Beim Spaziergang entlang des Glattufers braucht es noch Fantasie, um erahnen zu können, dass hier ein Naturparadies entstehen soll. Bagger, Kieshaufen und Totholz prägen aktuell das Bild, doch die Maschinen verschwinden bald wieder – Kies und Holz bleiben als Teil der neuen Flusslandschaft.
Unter der Oberfläche, am und über dem Wasser, entsteht eine neue Welt: Baumstämme werden behutsam in die Strömung gelegt, Kiesinseln aufgeschüttet, Rückströmungen und kleine Wirbel geschaffen. An vielen Orten, wie es jetzt schon beim Abschnitt Altried zu beobachten ist, schlüpfen junge Fische zwischen den Stämmen hindurch und erkunden ihre neuen Rückzugsräume – für sie ist dieser Abschnitt wie ein Hotel: Flache Kiesbänke dienen als Kinderzimmer, tiefe Pools bieten Schutz und Nahrung, schattige Uferbereiche fungieren als kühle Sommerresidenz.
In den alten Kanälen finden Fische kaum geeignete Laichplätze oder Rückzugsräume. Thierry Schneiter, Präsident des Fischer Verein Züri Unterland, erklärt: «Die Veränderung des Wetters hat natürlich auch einen Einfluss auf die Fische und die Artenvielfalt. Hitzesommer mit anhaltender Wärme und tiefem Wasserabfluss belasten die Fische unterschiedlich.» Im oberen Bereich der Glatt, beim Auslauf aus dem Greifensee, könne die Wassertemperatur im Sommer bis zu 27 Grad erreichen. Wärme fördere zudem das Algenwachstum, das dem Wasser Sauerstoff entziehe.
Tagsüber produzieren Algen und Wasserpflanzen durch Fotosynthese Sauerstoff, in der Nacht jedoch verbrauchen sie ihn durch Zellatmung – dadurch kann es besonders in den frühen Morgenstunden zu Sauerstoffmangel kommen.
Wo ist die Forelle?
«Eine Bachforelle braucht klares, kühles und sauerstoffreiches Wasser. Dies ist in der Glatt jedoch nicht mehr immer gegeben», führt Schneiter aus. Wo ist die Forelle also noch zu finden? «Relativ einfach: in tieferen Bereichen mit Strömung und meist bei Schwellen im Fluss, wo zusätzlich Sauerstoff ins Wasser gelangt», so Thierry Schneiter.
Bereits Temperaturen über 15 Grad bedeuten laut der Baudirektion Kanton Zürich Stress und fördern Krankheiten wie "PKD", eine parasitische Nierenkrankheit, die vor allem bei jungen Forellen hohe Ausfälle verursachen können; ab etwa 25 Grad kann es tödlich enden. Demgegenüber haben Arten wie Alet, Barbe, Hecht und Egli weit weniger Probleme mit höheren Temperaturen.
Somit hängt die Zusammensetzung des Fischbestands stark von der Wassertemperatur ab. Während noch Gebiete mit gutem Forellenbestand bestehen, breiten sich an anderen Orten Alet und Barben zunehmend aus.
Die Glatt als Spiegel der Fischfauna
Die Fischerinnen und Fischer spüren diese Veränderungen oft wie kaum jemand sonst. Wenn Fische kommen oder verschwinden, bemerken sie es sofort und wissen genau, welche Stellen für das Überleben bestimmter Arten entscheidend sind. Der Fischer Verein Züri Unterland stellt fest, dass bereits mehrere Abschnitte des Reviers Glatt 219 – von der Brücke in Hochfelden bis zur Brücke Glattfelden-Schachen – von den Massnahmen profitieren konnten und sowohl Fischbestand als auch Artenvielfalt nachweislich zugenommen haben. Fische gelten als besonders sensible Indikatoren für die ökologische Qualität von Flüssen. Die Glatt beeindruckt trotz intensiver Nutzung mit einer bemerkenswerten Artenvielfalt. Fangstatistiken des Kantons Zürich dokumentieren rund 40 Fischarten, darunter Döbel, Barbe, Rotauge, Flussbarsch, Aal, Karpfenartige sowie vereinzelt Bachforellen, Welse und Hechte.
Kantonale Fangstatistiken zeigen, dass die Bestände vieler kaltwasserliebender Fische seit den 1990er-Jahren rückläufig sind, während wärmeliebende Arten mehrheitlich stabil bleiben oder zunehmen. Lukas Bammatter, Co-Leiter der Fischerei- und Jagdverwaltung des Kantons, erläutert: «Anhand von langjährigem Monitoring können wir überprüfen, wie sich der Fischbestand in einem Gewässer entwickelt. In revitalisierten Abschnitten stellen wir häufig fest, dass der Fischbestand steigt und die Artenvielfalt zunimmt.»
Rückzugsräume aus Holz schaffen
Die Aufwertung von Flussabschnitten geschieht durch ein komplexes Zusammenspiel von Massnahmen, die alle auf das gleiche Ziel hinarbeiten: Habitatvielfalt zu schaffen. Ein Beispiel sind die sogenannten Engineered Log Jams – gezielt platzierte Baumstämme, Wurzelstöcke oder Äste, die in der Strömung verankert werden. Diese Konstruktionen erzeugen Strömungsverwirbelungen und Rückströmungen, die wie kleine Schutzräume wirken. Jungfische finden hier Deckung, gleichzeitig werden Insekten als Nahrung angeschwemmt.
Neben Holz sind Kiesbänke und Inseln entscheidend: Lockere Kiesflächen dienen als Laichplätze für Forellen. Inseln brechen das Strömungsbild auf und schaffen Rückzugsräume. Variabilität von Tiefe und Strömung ist wichtig: Tiefe Pools bieten Rückzugs- und Jagdräume für adulte Fische, flache Uferzonen Schutz für Jungfische. Strömungsschnellen liefern Sauerstoff und Nahrung, langsamere Abschnitte Ruhe und Energieersparnis.
Beschattung durch Ufervegetation schützt empfindliche Arten und reduziert Algenwachstum. Uferaufweitungen und Mäander schaffen dynamische Strukturen für Biodiversität und Hochwasserschutz. Am Zwicky-Areal in Dübendorf und Wallisellen wurde die Glatt zwischen 2022 und 2023 auf einer Länge von rund 400 Metern revitalisiert. Das Flussbett wurde ausgebaggert und mit Strukturen versehen, sodass unterschiedliche Fliessgeschwindigkeiten, Senken und Rückzugsmöglichkeiten für Fische sowie Nischen für Kleinstlebewesen und Insekten entstanden. Der Fluss erhielt insgesamt mehr Raum und ist nun auch für ein Hochwasser gewappnet, wie es statistisch nur alle 300 Jahre vorkommt. Für die Bevölkerung wurden Steinstufen zum Wasser sowie ein breiter Uferweg geschaffen.
Das Gebiet Altried zwischen Zürich und Wallisellen wurde von November 2022 bis Januar 2024 umgebaut und revitalisiert. Der Fluss erhielt ein neues, grosszügigeres und strukturreiches Gerinne, der Uferweg wurde markant verbreitert und neue Sitzgelegenheiten, ein Picknickplatz sowie ein Weiher kamen hinzu.
Am Flughafen Zürich entsteht seit 2025 eine Pilotstrecke bei Rümlang: 240 Meter mit Engineered Log Jams, variablen Tiefenprofilen und neuen Uferpflanzungen. Bis 2028 sollen dort 3,25 Kilometer revitalisiert sein. Bei den Arbeiten im ersten Bauabschnitt wurden PFAS-Schadstoffe in den Glattuferböschungen nachgewiesen, was die Arbeiten verzögerte. PFAS, kurz für per- und polyfluorierte Alkylverbindungen, sind künstliche Industriechemikalien. Sie sind in der Umwelt kaum abbaubar. Die Belastung ist lokal unterschiedlich, der Grossteil des Bodens kann verwertet werden; weitere Abschnitte hängen von klaren gesetzlichen Vorgaben ab. Auch das Glattwehr beim Greifensee wird von 2026 bis 2027 saniert – ein Projekt, das Naturschutz und Denkmalschutz miteinander verbinden muss.
Ein Fluss als Lebensraum
Revitalisierung bedeutet nicht, die Natur ins 18. Jahrhundert zurückzuversetzen, sondern ihr wieder Spielraum zu geben. Die Glatt steht für eine Wende im Umgang mit Wasser und Natur: Aus dem Kanal wird ein lebendiger Fluss, in dem Menschen Natur erleben – und in dem die Forelle im neuen Kiesbett wieder Laichplätze findet.