Die Glatt kehrt zurück
Die Glatt im Glattal erhält erstmals wieder Raum für Natur und Erholung. Auf einer Pilotstrecke in Rümlang wird getestet, wie der Fluss Schritt für Schritt zu einem dynamischen Lebensraum zurückkehren kann.
Über Jahrzehnte hinweg war die Glatt im Glattal nichts anderes als ein schnurgerader Kanal, eingezwängt zwischen hohen Böschungen und weit entfernt von der Dynamik eines natürlichen Flusses. Das Wasser floss berechenbar, doch der Fluss selbst wirkte leblos, Lebensräume für Fische, Amphibien und Insekten gingen verloren, und die Bevölkerung hatte kaum Gelegenheit, den Fluss als Naherholungsraum zu nutzen. Nun beginnt ein Umdenken: Auf einer 240 Meter langen Pilotstrecke in Rümlang wird erprobt, wie der Fluss Schritt für Schritt wieder zu einem abwechlungsreichen und naturnahen Lebensraum werden kann. Dies ist der Auftakt für die Revitalisierung der rund 3,25 Kilometer langen Strecke zwischen Opfikon und Rümlang.
Vom Kanal zum lebendigen Fluss
Bettina Kunz, Leiterin Corporate Communications bei der Flughafen Zürich AG, erklärt, dass für die Umsetzung des Projekts Glattrevitalisierung die Flughafen Zürich AG zuständig sei, nachdem das Projekt vom Kanton zugeteilt wurde. Denn der Flughafen muss seine Erweiterungen Ausbauten anderswo kompensieren. Das Awel – das Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft, die kantonale Fachstelle für Umwelt, Gewässer und Energie – begleite das Vorhaben eng und stelle die Abstimmung mit dem Freiraumkonzept Fil Bleu Glatt sicher. «Der geplante Glattlauf in denjenigen Abschnitten, welche wir umsetzen, wurde gemäss den Vorgaben der Baudirektion des Kantons Zürich festgelegt», ergänzt sie. Unterstützt wird das Projekt auch vom kantonalen Amt für Landschaft und Natur (ALN), das ökologische Aspekte begleitet, den Schutz seltener Pflanzenarten sicherstellt und die Förderung der Artenvielfalt prüft.
Auf einer Länge von rund 240 Metern entstehen im Bereich der Pilotstrecke die ersten beiden Mäander – bei der neuen Rohrstrasse. Die Dringlichkeit der Revitalisierung wird durch die Beobachtungen des Awel unterstrichen, die im Online-GIS-Browser unter «Revitalisierungsplanung öffentliche Fliessgewässer» einsehbar sind: Der Flussabschnitt ist als «stark beeinträchtigt» eingestuft, während Revitalisierungsnutzen, ökomorphologisches Aufwertungspotenzial und ökologisches Potenzial als gross bewertet werden. Hier lässt sich also viel gewinnen. Die Bewertungen des Awel machen deutlich, dass die Massnahmen nicht nur wünschenswert, sondern notwendig sind, um die ökologischen Defizite auszugleichen.
Pilotstrecke als Lernlabor
Die Pilotstrecke dient als Versuchslabor für die Methoden, die später auf der gesamten 3,25 Kilometer langen Strecke angewendet werden sollen. «Die Pilotstrecke dient dazu, schnell Erfahrungen bei der Umsetzung von Gestaltungs-, Struktur- und Sicherungselementen zu machen, um allfällige Verbesserungen für das Gesamtprojekt ableiten zu können», erläutert Kunz.
Die Verantwortung für die Auswertung der Ergebnisse liege dabei abschliessend bei der Flughafen Zürich AG. Kunz erklärt: «Ein Team von Wasserbauingenieuren, Ökologen und Bodenspezialisten führt die Analysen durch und macht zuhanden des Projektleitungsteams, in dem auch Vertreter des Awel und des ANL einsitzen, Vorschläge. Nach gemeinsamer Evaluation werden die Massnahmen daraus abgeleitet.» Was ist daran besonders neu? «Zu den Elementen, bei denen man noch wenig Erfahrung hat, zählen die sogenannten ‹Engineered Log Jam›. Dies ist eine Bauweise aus Totholz, mit der die in natürlichen Flüssen vorkommenden Ansammlungen von Stammholz nachgeahmt wird.»
Diese Holzbarrieren verändern die Strömung, schaffen Rückwasserzonen und langsam fliessende Bereiche für Fische und andere Wasserlebewesen. Gleichzeitig stabilisieren sie die Ufer, bieten Schutzräume und tragen zur natürlichen Dynamik des Flusses bei. «Genau hier wollen wir Erfahrungen sammeln», betont Kunz. Damit wird erstmals ein ökologisches Gestaltungselement eingesetzt, das in naturnahen Flüssen selbstverständlich ist, in verbauten Gewässern wie der Glatt aber bislang kaum vorkommt.
Lebensräume für Natur und Menschen
Die Pilotstrecke verfolgt nicht nur ökologische, sondern auch gesellschaftliche Ziele. «Auf das Gesamtprojekt bezogen werden ökologische Ziele berücksichtigt wie die Förderung seltener Pflanzenarten und der Artenvielfalt sowie die Aufwertung von Erholungsräumen durch Fuss- und Velowege, Rastplätze und Beobachtungsmöglichkeiten», sagt Kunz. Dazu zählen abwechslungsreiche Ufervegetation, wechselnd steile und flache Uferböschungen, kleine Flachwasserbereiche und Riedwiesen, die Amphibien, Insekten, Vögeln und Fischen neue Lebensräume bieten. Gleichzeitig aber werde der Fluss für die Bevölkerung zugänglich gemacht: Spazierwege werden naturnäher, Aufenthaltsorte mit Blick aufs Wasser geschaffen, und die Region erhält ein Naherholungsgebiet. Laut dem Flughafen geht es darum, einen Ort zu schaffen, der ökologisch wertvoll ist und den Menschen gleichzeitig mehr Aufenthaltsqualität biete.
Kriterien für den Erfolg
Die Pilotstrecke wird laufend evaluiert. Die Erkenntnisse fliessen direkt in die Planung der längeren Ausbaustrecke ein, die bis 2027 umgesetzt werden soll. «Die Pilotstrecke dient der Überprüfung der Planung und, ob für die weiteren Bauabschnitte allenfalls Anpassungen vorgenommen werden müssen», erklärt Kunz. Besonders im Fokus stehen die Auswirkungen auf die Artenvielfalt, die Stabilität der neu geschaffenen Uferzonen und die Akzeptanz der Bevölkerung. Damit markieren die 240 Meter in Rümlang den Beginn einer umfassenden Transformation der Glatt. Der schnurgerade Kanal soll Schritt für Schritt zu einem lebendigen Fluss zurückgeführt werden – mit Holz, Natur und Raum für Begegnung.
Ökologische Vielfalt
Die Glatt, lange Zeit nur Wasser(ab)leitung im Dienst der Technik, steht damit an einem Wendepunkt: Sie kehrt zurück – als Fluss. Mit der Pilotstrecke in Rümlang zeigt sich, wie ein stark veränderter Fluss wieder ökologische Vielfalt, Lebensräume und Erholungsqualität für Mensch und Natur vereinen kann. Die Beurteilungen des Awel machen dabei deutlich: Die Revitalisierung ist nicht nur sinnvoll, sondern dringend notwendig.
Im Moment noch unansehnlich, aber näher an der Natur: Auf einer Länge von 240 Metern soll die Glatt in Rümlang probehalber wieder eigenständiger fliessen können. Diese naturnahe Methode soll später auf der gesamten 3,25 Kilometer langen Strecke zwischen Opfikon und Rümlang zur Anwendung kommen. Bild Lorenz Steinmann
Der bisherige Flussabschnitt wird als «stark beeinträchtigt» eingestuft. Archivbild: Roger Suter
So naturnah soll sich dereinst die Glatt am selben Ort durchschlängeln. Bild zvg