Werden

Friedjung Jüttner

Leben ist ein ständiges Werden. Das ist hinreichend bekannt. In seinem lesenswerten Buch «Mit der Reife wird man immer jünger» ordnet Hermann Hesse das Werden der Jugend zu. Die Aufgabe des reifen Menschen hingegen sei das «Sichweggeben» oder das «Entwerden».

Wenn ich das so lese, werde ich hellhörig. Ich muss nämlich annehmen, dass Hesse mit den «reifen Menschen» uns Alte meint, die er den vorher genannten Jungen gegenüberstellt. Da würde ich ein Fragezeichen setzen, weil bekannt ist, dass wir Alten nicht immer unbedingt auch «reif» sein müssen.

 

«Das Werden im Alter hat auch seine Qualitäten, an die wir in unserer Jugend gar nicht gedacht haben.»

Friedjung Jüttner, Dr. phil., Psychotherapeut

 

Aber mir geht es um die beiden Wörter «Sichweggeben» und «Entwerden». Sie klingen für mich negativ. Mit zunehmendem Alter gebe ich nichts weg. Im Gegenteil. Ich verliere. Oder es wird mir genommen und das immer mehr. Die Kräfte lassen nach, das Gedächtnis ebenso. Die Gesundheit lässt häufiger zu wünschen übrig. Der Prozess, dass etwas weggeht, ist unaufhaltsam. In der Regel bemühen wir uns, diesen Vorgang zu verlangsamen. Weggeben wäre das Gegenteil. Die Tatsache, dass ich diesen Prozess vielleicht etwas verlangsamen, aber nicht aufhalten kann, stört mich nicht. Ich registriere ihn, ohne mich darüber aufzuregen. Nur, weil ich mein Altern gelassen hinnehme, gebe ich aber es nichts weg.

Nun zum Wort «Entwerden». Die Vorsilbe «Ent-» passt natürlich zum Alterungsprozess, bei dem vieles fort- oder wegfällt. Aber dieses «Ent-» richtet sich nicht gegen das Werden (was Hesse vermutlich meint), es ist Teil davon. Dem Werden, wie beispielsweise dem Älterwerden, können wir nicht entkommen. Dem sind wir ausgeliefert oder es gehört existenziell zum Leben.

Zudem hat das Werden im Alter auch seine Qualitäten, an die wir in unserer Jugend gar nicht gedacht haben. Allein schon das gelassene Akzeptieren der Prozesse, die sich im Alter in unserem Körper und oft auch im Kopf abspielen, ist eine Leistung, die wir unserer Lebensweisheit verdanken. Und sie zu fördern, ist ein ständiges Werden.