Macht

Friedjung Jüttner

Was im Laufe der Menschheitsgeschichte über Macht gedacht und geschrieben wurde, füllt ganze Bibliotheken. Das hat damit zu tun, dass der Begriff «Macht» ganz verschieden verstanden und ausgelegt werden kann. Je nach Zeit oder je nach religiösem Verständnis oder je nach Machtbewusstsein.

Beispielsweise der heilige Paulus leitete alle Macht von Gott ab (Röm 13). Für Marx war Macht mit der Beziehung zur Klassenherrschaft in kapitalistischen Gesellschaften verbunden. Und wer Macht hat, ist schnell in Gefahr, sie zu missbrauchen. Darum haben die Menschen die Demokratie erfunden, die bei der Machtverteilung helfen soll. Kein Wunder, dass einige Politiker von heute nicht nur Mühe mit der Demokratie bekunden, sie lehnen sie sogar direkt ab. Die negativen Beispiele einiger Machthaber sind teilweise schuld daran, dass wir mit dem Wort «Macht» schnell negative Gefühle und Vorstellungen verbinden. Das müsste nicht sein, weil Machtgebrauch auch eine gesunde Fähigkeit des Menschen ist.

«Darum haben die Menschen die Demokratie erfunden, die bei der Machtverteilung helfen soll.»

Friedjung Jüttner, Dr. phil., Psychotherapeut

Ich weiss es nicht mehr genau, aber ich glaube, es war Martin Buber, bei dem ich meine Erklärung von Macht gefunden habe. Sie ist eigentlich weniger theoretisch, sondern sehr praktisch. Das deshalb, weil sie mit dem Wort «Kraft» in Zusammenhang steht, sich aber klar davon unterscheidet. Nach Buber ist Macht die Fähigkeit, Kräfte wirksam werden zu lassen. Und Kraft wäre die Fähigkeit, Veränderungen hervorzubringen. Das Zusammenspiel von Macht und Kraft gehört zu unserem Alltag und ist uns trotzdem gar nicht so bewusst. Wenn Sie beispielsweise Auto fahren, dann stehen Bremse, Gas und Steuer für die Kräfte des Autos. Sie selber haben die Macht über diese Kräfte und müssen sie sinnvoll einsetzen. Verlieren Sie die Macht über Ihr Fahrzeug, landen Sie schnell im Strassengraben. Ohne die Macht über die Kräfte Ihres Autos kämen Sie nicht gut ans Ziel. Es braucht beides. Und beides wirkt zusammen.

Um dieses existenziell bedeutsame Zusammenwirken von Macht und Kraft zu verdeutlichen, gibt es viele Beispiele. Nehmen wir den Dirigenten und sein Orchester. Die Musik produziert nicht der Dirigent. Dazu braucht er seine Musiker, die die Töne hervorbringen müssen. Aber, er übt Macht über sein Orchester aus, damit sie so musizieren, wie er es gern hören möchte. Vielleicht haben Sie lieber ein Beispiel aus dem Sport. Die Trainerin einer Fussballmannschaft steht am Rand des Spielfeldes und dirigiert ihre Spielerinnen wie der Dirigent seine Musiker. Sie hat – zwar nicht immer – die Macht, ihre Spielerinnen so zu beeinflussen, dass sie ihre Kräfte in ihrem Sinn einsetzen und das Spiel gewinnen. Aber ohne ihre Spielerinnen ist sie eigentlich machtlos, obwohl sie wüsste, wie es geht, also eigentlich mächtig wäre. Kurz: Macht in diesem Sinne ist also etwas Positives und Erstrebenswertes.

Und wie ist es bei gewissen Politkern, die ihre Macht nicht mehr abgeben wollen? Im Unterschied zum Dirigenten oder zur Trainerin, die ihre Macht für ein übergeordnetes Ziel einsetzen, was übrigens auch die meisten Politiker anstreben, benutzt der Machtpolitiker seine Macht, um diese für sich immer mehr auszubauen. Sein Ziel ist der eigene Machterhalt. Die Kräfte, über die er verfügt, beispielsweise seine Beziehungen zu Kräften wie Militär oder Polizei, die ihm unterstellt sind, werden seinem Machterhalt untergeordnet und damit missbraucht. Und da dieses Vorgehen mit grosser Un­sicherheit verbunden ist, muss er seine Macht ständig weiter ausbauen und alles unschädlich machen, was sie gefährden könnte. Ein ständiger Kampf gegen die Unsicherheit und die damit verbundene Angst. Ich weiss nicht, von wem der folgende Satz ist, aber ich stimme ihm voll zu: «Macht ohne Kontrolle ist nichts anderes als Angst, die sich selbst befriedigt.»