Ein «ganz abgefahrener» Zug ist angekommen
In «freier Wildbahn» besprayen Graffitikünstler auch mal Züge – und sorgen bei Reisenden und Bahnbetreibern für Ärger. Im «Graffland» kann man dies ab dem Sommer auch legal tun: auf einem alten Zug der Tessiner Centovalli-Bahn.
Mit dem «Graffland» haben Yassin Tair und Till Boller einen Ort geschaffen, wo man Graffitikunst legal ausleben kann: In einem Teil der früheren Kläranlage stellen sie Wände und weitere Infrastruktur zur Verfügung, um neue, aber nach wie vor vergängliche Kunstwerke zu schaffen («Stadt-Anzeiger» vom 24. April). Auch ein ausgedienter VW-Bus bekommt hier regelmässig neue Sprühfarben verpasst. Und ab diesem Sommer steht den Künstlerinnen und Künstlern eine weitere «Leinwand» zur Verfügung: ein Zug.
Es ist eine ausgediente Komposition der Centovalli-Bahn. Sie pendelte bis vor einigen Wochen auf der Strecke zwischen Locarno und Domodossola. Die beiden Betreibergesellschaften, die italienische Società Subalpina di Imprese Ferroviarie (SSIF) und die Schweizer Ferrovie e autolinee regionali ticinesi (FART), haben bei Stadler Rail neue Kompositionen gekauft. Der Eisenbahnbauer aus dem thurgauischen Bussnang hat dafür die alten Züge übernommen – und einen davon für mehrere tausend Franken an die Betreiber des «Grafflands» verkauft.
Gotthard easy, Kläranlage eng
Der Kauf ist das eine, der Transport des Gelenk-Triebwagens das andere. Yassin Tair und Till Boller, die zusammen mit ihren Vereinsmitgliedern so viel wie möglich selber machen, haben sich deshalb Spezialisten geholt. Und diese brachten den 32 Meter langen, creme-blauen Zug vergangene Woche vom Tessin nach Opfikon. Nach dem Verladen auf zwei Spezialtieflader fuhren die Zugteile am Dienstagabend vergangener Woche via Gotthard-Autobahn bis in die Region Zürich. Am frühen Mittwochmorgen ging es dann gestaffelt weiter bis zum endgültigen Standort beim Glattpark.
Seit rund zwei Wochen beschäftigte sich Timon Bohler mit der Platzierung und dem Sondertransport der beiden Waggons. Wobei dieser so besonders gar nicht ist: «Wir transportieren fast jede Woche Schienenfahrzeuge von einem Ort an einen anderen», so der Projektleiter bei Emil Egger Logistik. Manchmal sind es Lokomotiven, Bahnwagen oder Strassenbahnen, die trotz ihrer Länge von 45 Metern am Stück verfrachtet werden. «Das Trennen, wieder Verbinden und nochmalige Testen aller Kabel dazwischen wäre wesentlich aufwendiger als so ein Transport», erklärt der Fachmann, der früher selber Chauffeur und Disponent war.
Hier in der früheren Kläranlage beim Glattpark bestand die grösste Schwierigkeit darin, die Tieflader, aber auch die beiden Pneukräne um die alten Klärbecken zu steuern; eine andere Zufahrt zum Gelände, die breit genug wäre, gibt es nicht. Zudem mussten die Pneukräne auf dem Platz mit Gegengewichten ausgestattet werden, um die 26 und 20 Tonnen schweren Zughälften vom Tieflader auf das vorbereitete kurze Gleisstück zu hieven.
Trotz der umsichtigen Planung und der Erfahrung der Fachleute brauchte es noch kleinere Nacharbeiten vor Ort, weil etwa der Ast eines Baumes im Weg war. Zum Glück hat Till Boller im Forstmetier gearbeitet und kann mit der Kettensäge umgehen; und eine Hebebühne – normalerweise fürs Besprayen hoher Wände benutzt – ist auch vorhanden.
Alle Farbe ist hier temporär
Bevor der Zug aussen farblich neu gestaltet wird, erhält er noch eine Schutzschicht, damit man die Sprayfarbe mit vertretbarem Aufwand wieder entfernen kann. Denn wie alle Werke hier soll auch dieses nicht von Dauer sein. Im Innern planen Yassin Tair und Till Boller einen Pop-up-Store, weitere Möglichkeiten wären Ausstellungen. Auf jeden Fall wartet dort noch viel Arbeit auf den Verein.
Der Transport wird ihn rund 20 000 Franken kosten. Zwar hat man 435 000 Franken aus dem «Gemeinnützigen Fonds Bildungsbereich» des Kantons Zürich erhalten (dem früheren Lotteriefonds), womit der ganze Umbau der Kläranlage bestritten wird. Deshalb überlegen sich Yassin Tair und Till Boller zusätzlich ein Sponsoring.
Als der Zug dann komplett und zusammengesetzt auf seinem neuen Gleis steht, fällt eine grosse Anspannung von Yassin Tair ab: «Er sieht schon ohne Farben superschön aus», findet er. Und eines der Vereinsmitglieder, die nun eintrudeln, bringt es auf den Punkt: «Abgefahren!»
Ebenfalls abgefahren sind die Videos von joel_sharks_fpv/, welche Aufstellen und Montage aus der Luft dokumentieren.