Der unsichtbare Schmerz unserer Gesellschaft
Wenn wir das Wort «Trauer» hören, denken wir meist an den Tod eines geliebten Menschen. An schwarze Kleidung, stille Umarmungen und Beileidskarten. Es gibt Rituale, eine gesellschaftliche Sprache für diesen Schmerz, der uns alle irgendwann trifft. Doch es gibt eine andere Form der Trauer, die ebenso tiefgreifend sein kann – und doch kaum Platz im öffentlichen Bewusstsein findet: die Trauer nach einer Trennung.
Eine Trennung bedeutet nicht nur das Ende einer Beziehung. Sie bedeutet oft auch den Verlust von Zukunftsplänen, von Alltagsritualen, von Vertrautheit, Geborgenheit, manchmal auch von einem Zuhause. Es ist das Zerbrechen eines kleinen Universums, das zwei oder mehr Menschen miteinander aufgebaut haben. Und selbst wenn diese Beziehung nicht mehr gut war – das Ende schmerzt. Weil etwas zu Ende geht, das einmal voller Hoffnung und Bedeutung war.
Und dennoch: In unserer Gesellschaft fehlt ein Raum für diese Trauer. Wer um eine zerbrochene Partnerschaft trauert, bekommt selten Mitgefühl oder Verständnis. Stattdessen hören Betroffene Sätze wie: «Er oder sie hat dich gar nicht verdient; Du findest bestimmt jemand Besseren.» Oder «Andere Väter haben auch schöne Töchter». Aussagen, die meist gut gemeint sind, den Schmerz aber verfehlen.
Warum gestehen wir Menschen bei einer Trennung nicht dasselbe emotionale Durchleben zu wie bei einem Todesfall? Die Antwort ist vielschichtig. Ein Grund liegt sicher in unserer leistungsorientierten Gesellschaft, in der Emotionen – insbesondere schmerzhafte – möglichst schnell «wegtherapiert» oder verdrängt werden sollen. Trauer ist unproduktiv. Sie macht langsam, lässt uns innehalten, stellt Sinnfragen. Und das passt nicht in eine Welt, die von Effizienz und Selbstoptimierung geprägt ist.
«Warum gestehen wir Menschen bei einer Trennung nicht dasselbe emotionale Durchleben zu wie bei einem Todesfall?»
Hinzu kommt: Während der Tod eines Menschen als unabänderlich gilt und damit Trauer als angemessene Reaktion gesehen wird, wird eine Trennung oft als etwas betrachtet, das «selbst verschuldet» oder zumindest beeinflussbar war. Es klingt fast so, als müsste man sich für seinen Schmerz rechtfertigen.
Besonders betroffen sind Menschen, die in sogenannten «nichtklassischen» Beziehungskonstellationen leben: unverheiratete Paare, kürzere Beziehungen, gleichgeschlechtliche sowie polyamore Partnerschaften oder Menschen, die aus Beziehungen ohne gemeinsamen Wohnsitz heraus in die Trennung geraten. Ihr Verlust wird gesellschaftlich oft gar nicht als «wirklich» anerkannt – nach dem Motto: «Ihr wart doch gar nicht richtig zusammen.» Als ob die Intensität einer Bindung sich nur in rechtlichen oder äusseren Formen messen liesse.
Ein weiterer Aspekt erschwert die Trennungstrauer: Der verlorene Mensch lebt weiter – nur ohne uns. Im Gegensatz zur Trauer nach dem Tod bleibt die Person physisch präsent – erreichbar, sichtbar, womöglich sogar weiterhin in Kontakt – und ist doch emotional unerreichbar. Das ist eine Form von Verlust, die schwer zu greifen ist und lange in uns nachwirkt.
In der Psychologie spricht man in diesem Zusammenhang von «ambiguous loss», also mehrdeutigem Verlust. Dieser Begriff beschreibt Situationen, in denen ein Mensch zwar physisch anwesend, aber emotional oder psychisch abwesend ist – oder umgekehrt: physisch abwesend, aber emotional weiterhin sehr präsent.
Eine Trennung ist ein Paradebeispiel für diesen Zustand: Der geliebte Mensch ist nicht gestorben, aber seine Rolle im eigenen Leben ist auf schmerzhafte Weise unklar geworden oder aber ganz verschwunden. Man kann ihn nicht wirklich verabschieden, weil er weiterhin existiert – oft sogar sichtbar im Alltag oder zumindest auf Abruf verfügbar in den sozialen Netzwerken.
Ambiguous loss erschwert den Trauerprozess, weil es keine eindeutige Grenze gibt. Kein «Jetzt ist es vorbei», kein klares Ende, kein klares Danach. Die emotionale Verbindung bleibt – oft lange. Gerade deshalb braucht es ein besonderes Mass an Selbstfürsorge, Geduld und ein Umfeld, das diesen Zustand nicht kleinredet, sondern ernst nimmt.
Wer sich in dieser Form der Trauer wiedererkennt, darf sich bewusst machen: Es ist normal, dass der Schmerz diffus ist. Dass das Loslassen Zeit braucht. Dass es keine «richtige» Reihenfolge der Gefühle gibt. Ambiguous loss ist kein Zeichen von Schwäche, sondern Ausdruck der Tiefe einer Beziehung, die nicht einfach abgelegt werden kann wie ein Mantel an der Garderobe.
Viele Menschen, die eine Trennung durchleben, leiden still. Sie funktionieren weiter im Job, kümmern sich um Kinder, machen Termine aus – und weinen abends auf dem Sofa. Oder weinen gar nicht. Die psychische Belastung ist dabei enorm. Nebst der Psyche sind das Nervensystem und der Körper in einem Überlebensnotstand. Studien zeigen, dass Trennungserfahrungen zu den häufigsten Auslösern von Depressionen, Angststörungen und psychosomatischen Beschwerden gehören. Das Gefühl von Verlassenheit, von Identitätsverlust und sozialer Isolation kann tiefgreifend sein.
Besonders schwer wiegt es, wenn nicht nur die Partnerschaft endet, sondern auch das soziale Umfeld zerbricht – gemeinsame Freundschaften, Kontakte zur Familie der Ex-Partnerin oder des Ex-Partners. Hinzu kommen manchmal finanzielle Unsicherheiten, Sorgerechtskonflikte oder das Aufteilen des gemeinsamen Haushalts. All das ist emotional hochbelastend – und doch wird die Trennung selten als Krise im gesellschaftlichen Sinne behandelt.
Was fehlt, ist eine öffentliche Anerkennung dieser Form von Trauer. Wir brauchen Rituale, die nicht nur für Todesfälle gelten. Warum nicht eine Art Abschiedszeremonie nach einer langen Partnerschaft? Warum nicht eine Sprache, die anerkennt, dass ein Mensch trauert und leidet, auch wenn niemand gestorben ist?
In manchen Kulturen gibt es bereits erste Ansätze dafür. In Südamerika etwa sind sogenannte Trennungsrituale verbreitet, bei denen sich Paare bewusst verabschieden – mit Freunden, mit Worten, manchmal sogar mit Musik. Solche Rituale können helfen, das Ende einer Beziehung würdevoll zu gestalten und emotionale Klarheit zu schaffen. Auch in der Therapie und in der Trauerarbeit gibt es immer mehr Angebote, die den Verlust einer Beziehung als ernst zu nehmenden Prozess begleiten.
Wir müssen lernen, Trennungstrauer als reale, legitime und tiefgreifende existenzielle Emotion zu be-greifen. Es braucht mehr Sensibilität im Umgang mit Betroffenen – und mehr Offenheit, selbst über erlebte Verluste zu sprechen. Denn fast jeder Mensch hat eine Trennung erlebt, die ihn oder sie tief erschüttert hat. Und doch sprechen wir kaum darüber.
Vielleicht sollten wir anfangen, Menschen in Trennungssituationen mit derselben Fürsorge zu begegnen, wie wir es bei einem Trauerfall tun würden. Vielleicht braucht es keine klugen Ratschläge, sondern einfach nur ein offenes Ohr, eine Einladung zum Spaziergang oder die schlichte Frage: «Wie geht es dir wirklich?»
So schmerzhaft Trennungen auch sind – sie bergen auch die Chance auf Wachstum. Wer die Trauer zulässt, sich ihr stellt, kann gestärkt aus ihr hervorgehen. Aber das braucht Zeit. Und es braucht Anerkennung. Denn jede Form von Trauer verdient ihren Raum. Auch die, die niemand sieht.
Cynthia Jucker, Paarberatung und Mediation im Kanton Zürich, Beratungsstelle Uster