Gedankensplitter: Normal

Friedjung Jüttner

«Sind Sie normal?» – «Aber klar!», werden Sie antworten. Und woher wissen Sie das?

Ich zähle mich auch zu denen, die sich für normal halten. Aber woher nehmen wir diese Gewissheit? Ich meine, es gibt dafür zwei Erklärungen. Die eine hat mit unserer Selbsteinschätzung zu tun. Die meint es nämlich meistens gut mit uns und klopft uns beschwichtigend auf die Schulter.

Der andere Grund ist ein sozialpsycho­logischer. Wenn uns in der letzten Zeit niemand als «nicht normal» eingestuft hat, dann halten wir uns für normal. Und sollte es doch jemand gewagt haben, dann lassen wir uns – wie eben erklärt – nicht gleich einschüchtern und sagen: «Der versteht mich einfach nicht.» Zudem sind wir – dank unserer Erziehung – ohnehin bemüht, uns so zu verhalten, dass andere nicht so schnell auf die Idee kommen, uns für nicht normal zu halten. Normalität ist wie ein moralischer Kompass, der allerdings von der jeweiligen Zeit und Kultur abhängig ist. Wer aber zu sehr vom Gewöhnlichen oder Durchschnittlichen abweicht, ist in den Augen der Mitwelt schnell mal nicht mehr normal.

 

«Vermutlich ist es klug, wenn wir mit dem Urteil, ob etwas noch normal ist oder nicht, vorsichtig umgehen.»

Friedjung Jüttner, Dr. phil., Psychotherapeut

 

Um die Begriffe auseinanderzuhalten: Die Norm ist die Richtlinie für das Normale. Und normal ist man dann, wann man die Richtlinien, die Norm, einhält. Beim Normalen geht es also um unser Verhalten. Aber das wird nicht nur von uns bestimmt, sondern – wenigstens teilweise – auch von unserer Mitwelt. Aber diese Mitmenschen sind ja auch wieder nur Einzelne, denen es geht wie uns selber. Worauf ich hinauswill, ist, dass wir zu den gängigen Normen ein ganz persön­liches Verhältnis haben und darum auch ein unterschiedliches Verhältnis zum Normalen entwickeln. Vermutlich sind Sie auch schon Menschen begegnet, die es sich zur Norm gemacht haben, nicht normal zu sein. Sind die dann noch normal?

Bei anderen stellen wir schnell mal die Normalität infrage. Massstab für diese Kritik sind wir dann selber, unser Verhalten oder die Einschätzung unserer selbst. Interessanterweise gibt es aber auch Verhaltensweisen oder Leistungen, die nicht der Norm entsprechen und die wir trotzdem bewundern. Im Sport beispielsweise: Ich habe Hochachtung vor Triathletinnen oder Zehnkämpfern. Aber allein schon deren Trainingsaufwand wäre für mich nicht normal. Wer die Normalität überschreitet, kann also belächelt, aber auch bewundert werden. Und worin liegt der Unterschied? Sind die genannten Sportler bereits abnormal, nur weil sie meiner Norm nicht entsprechen?

Vermutlich ist es klug, wenn wir mit dem Urteil, ob etwas noch normal ist oder nicht, vorsichtig umgehen. Oder noch besser: Wir sollten nicht nur auf die Normen unserer Gesellschaft Wert legen, sondern gleichzeitig auch unseren eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten Beachtung schenken. – Nur ist das gar nicht so einfach, dabei immer wieder die angemessene Balance zu finden. Vielleicht ist dabei folgendes Zitat hilfreich : «Wer zu sich selber finden will, darf andere nicht nach dem Weg fragen.»